Quelle: Zeuthener Musikbrief Gesamtschule Paul Dessau / Zeuthen

Arbeit an der Partitur Il canto sospeso

 

Margarita Dittrich: Unterrichtliche Umsetzung des Projektes in dem Fach Musik

3. "Il canto sospeso" - Wege zu einer analytischen Betrachtung

Den Schülern wurden zuerst die Texte der Abschiedsbriefe, die Nono ausschnittsweise in seiner Komposition vertonte, vorgestellt. Bevor die Schüler die gesamte Komposition zum ersten mal von einer CD-Aufnahme hörten, bekamen sie einen Text zum Lesen. In diesem Text werden die Anordnung der Teile und die Klangdramaturgie des Werkes beschrieben. Der Lehrer faßt die wichtigsten Inhalte zusammen. Er macht auf die Besetzung der unterschiedlichen Teile aufmerksam und weist gesondert auf den 1. Teil, auf die zwei lyrischen Höhepunkte und auf das Finale hin. In diesem Text fallen auch die ersten Bemerkungen in bezug auf die musikalische Ausarbeitung der verwendeten Texte.

3.1. Die Anordnung der Teile und die Klangdramaturgie des Werkes*

„Il canto sospeso“ ist eine Kantate für Sopran, Alt, Tenor, Chor und Orchester. Die beträchtliche Dauer von beinahe einer halben Stunde wird durch Überleitung in neun Episoden ausgeglichen. Diese Episoden kombinieren Solisten, Chor und Orchester nach einem Gesetz der Abwechslung, das so alt ist wie die Form der Kantate selber. Die ersten vier Teile, die folgenden drei und die beiden letzten bilden drei Abschnitte, die musikalisch durch eine kurze Pause nach dem vierten und siebenten Teil angedeutet werden.

Der I. Teil zeichnet sich durch zwei Klangfelder aus - Bläser und Streicher. Dazwischen wie ein Verbindungsstück liegt das Klangfeld der Pauken, die dramatische Farbtupfer setzen. Die verstreuten Klänge im Raum verbinden sich in einer vielfarbigen Linie im Sinne der Klangfarbenmelodie. Der erste Einsatz der Streicher in sehr hoher Lage wirkt vom Ausdruckscharakter her wie ein expressives Hervorheben des Schmerzes. Die weiteren Klangflächen der Streicher drücken ein lyrisches Empfinden aus.

Im II. Teil (für Chor a capella) werden die Textteile in allen acht Stimmen des Chorsatzes zerstreut. Phonetisches Material wird zum Klangmaterial (Beispiel Partitur Teil 2). Langgezogene Klänge auf Vokale kontrapunktieren mit gesungenen Worten und Wortsilben in anderen Stimmen. Das Sprachmaterial ist so im Raum verteilt, daß der Eindruck für einen schwebenden Gesang entsteht.

Im III. Teil werden drei Texte von drei Solisten gleichzeitig vorgetragen. Diese Verwendung der Texte bei Nono erinnert an die Tradition der Motette in seiner frühen Form aus dem 14. Jahrhundert (Beispiel Partitur Teil 3). Die drei Texte, die am Anfang ganz abgetrennt voneinander in drei Soli-Partien vorgetragen werden, beginnen allmählich zusammenzuwirken: „Sie bringen mich nach Kessarani/ Sie hängen mich/ Sie erschießen uns“. Ihre gegenseitige Wechselwirkung und Durchdringung endet in dem Text-Unisono am Ende des Teils. Die semantische Bedeutung der gleichzeitig vorgetragenen Texte wird in eine musikalische Aussage umgewandelt - musikalische und semantische Gestalt verschmelzen ineinander (Beispiel Partitur Teil 3 ). Die Idee für den schwebenden Gesang sucht im IV. Teil ihre instrumentale Form. Die vibrierenden Streicherklänge und das Anschwellen und Abschwellen des Orchesters erzeugen den Eindruck für einen schwebenden instrumentalen Klang. Die Musik stimmt uns nachdenklich.Aus dieser Stimmung bricht die Musik nur einmal aus, in einem Crescendo, wie ein extrovertierter Gestus „nach außen“.

Aus dem IV. Teil spricht das intime Empfinden, begründet in dem Charakter der Briefe, die nur für eine oder einigen bestimmten Personen vorgesehen waren. Der V. und VII. Teil bilden die lyrische Höhepunkte in dem Verlauf der Gesamtform. In dem V. Teil, aber besonders in dem VII. Teil trotz der Verwendung von kompositorischen Verfahren der seriellen Technik, ist das gesangliche Element sehr ausgeprägt.

Nach dem V. Teil wird die erste Episode des VI. Teils als scharfer Kontrast empfunden. In Verbindung mit den angewandten Gestaltungsmitteln, aber auch in Verbindung mit dem Thema der gesamten Komposition, kommt hier der Vergleich mit einem „Dies irae“ auf.

Der VIII. Teil, der nur für Orchester komponiert ist, ist dem I. Teil sehr verwandt. Das was ihn deutlich von dem Anfangsteil unterscheidet ist die Dramatik, die den Ausdruckscharakter dieses Teils bestimmt. Aus der Klangfarbenpalette des VIII. Teils gehen die Pauken in den IX. Teil über.

Wenn man an das dramatische Potenzial des Themas der Gesamtkomposition denkt, wirkt der IX. Teil zurückhaltend; eher als eine introvertierte Reflexion auf die Abschiedsbriefe. Anstelle der eindringlichen Dynamik eines Schlußsatzes - Schmerz und nachdenkliche Stimmung.

3.2. Über die Musikalische Ausarbeitung der verwendeten Texte in "Il canto sospeso"**

Für Schüler, die die Problematik der Wort-Ton-Verhältnisse in der Vokalmusik nur aus Betrachtungen von gregorianischen Choräle, Messen und Madrigalen, Kunstliedern und melodramatischen Stücken kennen, bedarf die Arbeit mit der Sprache im Nonos Werk bestimmter Erläuterungen. Die Formulierung „Verräumlichung der Sprache“, die die Musikwissenschaftlerin Ivanka Stojanova in einer Analyse von „Il canto sospeso“ verwendet, gibt eine gedankliche Richtlinie.

In seinen vokalen Werken verwendet Nono zahlreiche kompositorische Verfahren der Verräumlichung. In diesem Sinne ist die Kompositionsstrategie in den Vokalwerken bei Nono mit den Verfahren der modernen Literatur vergleichbar. Die Verräumlichung des musikalisierten Textes bei Nono erinnert an die Auflösung der sprachlichen Einheit des Wortes und an die Verräumlichung in der Verteilung des Textes auf der Seite in der modernen Literatur (Beispiele Gedichte Cummings und Jandl). Diese Verfahren erstreben selbstverständlich eine Verdichtung des Sinnes, eine Mehrdeutigkeit der Aussage.

Verräumlichung des in Musik gesetzten Textes bedeutet die Gleichzeitigkeit mehrerer vokaler Linien mit demselben oder mit verschiedenen Texten. Sie bedeutet auch Zerlegung, Zersplitterung oder Zerstäubung des sprachlichen Materials. Die Aufhebung der Linearität der melodischen Aussage ist selbstverständlich mit einer Auflösung der Linearität des Textes eng verbunden (Beispiel Partitur Canto,  auch Vergleich mit Beispiel  - Verräumlichung des Textes in einem Madrigal von C. Monteverdi ). Der Text ist wie eine Art von klanglichem phonetischen Feuerwerk über den ganzen Chorsatz zerstäubt. Die verschiedenen Vokalparte bringen nicht den ganzen Text, sondern nur Bestandteile, Fragmente, nicht nur des Satzes, sondern auch des Wortes und relativ selten der Silben. Erst die komplementäre, ergänzende Zusammensetzung der kleinsten Partikel dieser beweglichen, nicht linearen Polyphonie ermöglicht es, die kontinuierliche Aussage des musikalischen verräumlichten Textes wieder zusammenzustellen.

Die polyphone Überlagerung von Vokal- und Textverläufen führen zu einer Bereicherung der Klangfarbe, die aber eine unvermeindliche Verwischung des Textes bringt. Abwesenheit der sprachlichen Bedeutung besagt aber nicht Abwesenheit des musikalischen Sinnes. Die globale semantische Bedeutung der gleichzeitig vorgetragenen Texte wird in eine verräumlichte musikalische Aussage umgewandelt, gemäß dem Verschmelzungsprinzip von musikalischer und semantischer Gestalt. Die Frage der Verständlichkeit des Worttextes in „Il canto sospeso“ wurde unter Einbeziehung von drei Texte kommentiert:

Text 1 (aus dem Aufsatz „Sprache und Musik“ von K.-H. Stockhausen, in „Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik I, 1958, S.66 )

"... In manchen Stücken des „Canto“ komponiert Nono den Text aber so, als gälte es, dessen Sinn wieder zurückzuziehen aus der Öffentlichkeit, in die er nicht gehört. Er läßt die Texte nicht vortragen, sondern birgt sie in einer so rücksichtslos strengen und dichten musikalischen Form, das man beim Anhören nahezu nichts mehr versteht. Wozu dann überhaupt Text und gerade diesen? ... „

Text 2 ( aus der Antwort Nonos auf Stockhausens Aussage in „L. Nono. Texte. Studien zu seiner Musik „ hersg. von J. Stenzl, 1975 )

"... Dieser Vorstellung Stockhausens möchte ich hiermit meinen Standpunkt gegenüber stellen: Die Botschaft jener Briefe der zum Tode verurteilten Menschen ist in mein Herz eingemeißelt wie in den Herzen aller der jenigen, die diese Briefe verstehen als Zeugnisse von Liebe, bewußter Entscheidung und Verantwortung gegenüber dem Leben und als Vorbild einer Opferbereitschaft und des Widerstandes gegen den Nazismus, dieses Monstrum des Irrationalismus, welches die Zerstörung der Vernunft versuchte. Hat man aus der Notwendigkeit der Passion Christi nichts anderes gelernt, als sich zu schämen ? Und soll diese jüngste Passion von Millionen, die nicht Gott, sondern Menschen waren, uns nichts anderes lehren , als uns zu schämen? Sind sie dafür gestorben? Ich möchte nicht darüber urteilen, wer sich da nun wircklich schämen sollte. Das Vermächtnis dieser Briefe wurde zum Ausdruck meiner Komposition. Und aus diesem Verhältnis zwischen dem Wort als phonetisch-semantischer Ganzheit und der Musik als dem komponierten Ausdruck des Wortes sind alle meine späteren Chorkompositionen zu verstehen. Und es ist völliger Unsinn aus der analytischen Behandlung der Klanggestalt des Textes zu folgern, damit sei diesem der semantische Gehalt ausgetrieben. Die Frage, warum ich zu einer Komposition gerade diesen Text und keinen anderen genommen habe, ist nicht intelligenter als die Frage, wieso man, um das Wort „dumm“ auszusprechen, ausgerechnet die Buchstaben d-u-m-m benutzt."

Text 3 ( aus dem Aufsatz „Ton, Wort, Synthese“ von Pierre Boulez in „Werkstatt-Texte“ von P. Boulez, Propyläen Studienausgabe, Verlag Ullstein, 1972, S. 117-119 )

"Wenn ich ein Gedicht wähle, (...) um es zu einer befruchtenden Quelle für meine Musik zu machen und so ein Amalgam zu schaffen, in welchem das Gedicht zugleich „im Mittelpunkt und außerhalb“ der Musik steht, dann kann ich mich nicht nur auf die affektiven Beziehungen beschränken, die diese beiden Wesenheiten miteinander unterhalten; dann drängt sich mir ein Gewebe von Verbindungen auf, das unteranderem zwar die affektiven Beziehungen miteinschließt, aber auch alle Mechanismen des Gedichts umfaßt, von der reinen Klangsubstanz bis zu seiner eigentlichen geistigen Ordnung.
(...) Der Gesang erfordert die Übertragung der Klangwerte des Gedichtsauf Intervalle und Rhythmen, die sich von den gesprochenen Intervallen und Rhythmen grundsätzlich unterscheiden; es geht nicht um eine überhöhte Diktion, sondern um eine Umwandlung und gestehen wir es ein, um eine Zerstückelung des Gedichts.
(...) Hat man den musikalischen Text dem dichterischen Text gemäß also strukturiert erhebt sich das Hindernis seiner Verständlichkeit. (...) Wenn ihr den Text verstehen wollt, dann lest ihn oder laßt ihn Euch vorsprechen: es gibt keine bessere Lösung. (...) Wir lehnen eine „musikalische Lektüre“ oder besser: eine Lektüre mit Musik ab. (...) Alle Argumente zugunsten des „Natürlichen“ sind nichts als Dummheiten, denn das Natürliche bleibt (in allen Kulturen) außer Betracht, wenn man sich vornimmt, Text und Musik zu amalgamieren.“

3.3. Selbständige Arbeit mit der Partitur

An Hand der Partitur des 9. Teils sollten die Schüler versuchen selbständig die musikalische Ausarbeitung der Texte zu untersuchen.

3.4. Über die Anwendung von seriellen Techniken

In der Arbeit mit der Partitur von „Il canto sospeso“ lag der Schwerpunkt der analytischen Betrachtungen auf die musikalische Ausarbeitung der Texte. Nur einige Erläuterungen berührten die Frage der Anwendung von seriellen Techniken. Es wurden Erläuterungen und Notenbeispiele von Hans-Peter Raiß, bezogen auf den 9.Teil der Komposition, verwendet (in Hans Vogt, „Neue Musik seit 1945“, Reclam-Verlag, 1972, S.281-282)

„...Die Töne der chromatischen Skala werden jeweils zwölfmal, versehen mit zwölf verschiedenen dynamischen Zeichen, gebraucht. Der Ambitus des Tonraumes umfaßt drei Oktaven plus ein Quartintervall, reicht von Fis bis h“. So kommt im Verlauf dieses Satzes zum Beispiel der Ton d zwölfmal vor mit jeweils unterschiedlichen dynamischen Bezeichnungen. Zählt man die Töne mit sich wiederholenden dynamischen Angaben hinzu, so erscheint er insgesamt sechzehnmal. Zur Verdeutlichung sind hier sechs Töne der Zwölftonreihe, deren Oktavlagen und dynamische Bezeichnungen aufgezeichnet. Am rechten Rand sind jeweils die doppelt oder mehrfach vorkommenden vermerkt.

Die Koppelung von Tonhöhe und Intensität zeigt, daß beides durch ein serielles Prinzip gestreut ist: zwölf verschiedene Tonhöhen entsprechen jeweils zwölf verschiedenen dynamischen Bezeichnungen. Auch die Umkehrung dessen gilt.

(...) „Il canto sospeso“ basiert auf einer Allintervallreihe und deren variierter Grundgestalt. Die Allintervallreihe ist eine besondere Form der Zwölftonreihe und so gefügt, daß zwölf verschiedene Töne durch elf verschiedene Intervalle verbunden sind.

Allintervallreihe

Fürs praktische Komponieren aber ist eine Reihe, die sich über fünfeinhalb Oktaven streckt, ein unhandliches Monstrum. Sie muß zusammengeschoben werden.

Allintervallreihe

Es entsteht eine Allintervallreihe, deren zwölf verschiedene Töne und elf verschiedene Intervalle sich nach beide Richtungen bewegen, auf- und abwärts. Für diese Allintervallreihe ist ferner charakteristisch, daß die Einzeltöne symmetrisch im Tritonusverhältnis stehen. Dies wird in dem Notenbeispiel durch Klammern verdeutlicht.


* In diesem Text werden analytische Beobachtungen aus dem Artikel von Massimo Mila „Nonos Weg zum Canto sospeso“ verwendet ( in „Luigi Nono - Texte, Studien zu seiner Musik“, hrg. von Jürg Stenzl, Zürich, 1975, S.380).

** Hier werden analytische Betrachtungen von Ivanka Stoianova verwendet, in „Die Musik Luigi Nonos“, Hersg. O. Kolleritsch, UE, Wien/Graz, 1991, S.180.