Die Partitur des „Canto“ ist für unbedarfte Schüler zunächst ein „Dschungel“, eine undurchsichtige Häufung und Wucherung von auch noch dissonanten Tönen …- schnell kann solch ein Dschungel zur „Wüste“ werden, die von Schülern abgelehnt wird. Diese Reaktion des Zurückweichens kann nach meiner Erfahrung vermieden werden, wenn die Anbahnung nicht mit der üblichen Methode (Hören eines Stückes – sofortige Analyse desselben) geschieht. Stattdessen schlage ich eine schrittweise „Öffnung zur Partitur hin“ vor.

1.Schritt: Schaffung einer emotionalen Bindung – Formulierung von ersten Hörerfahrungen/Assoziationen

Ein Satz des Canto wird ohne theoretische Einbettung zweimal angehört, Aufgabe:“Schreibt eure persönlichen Eindrücke auf. Wie wirkt das Stück auf euch, hat es vom Ausdruck her Phasen oder Brüche, drängen sich Bilder oder Assoziationen auf?“ Fachbegriffe sind hier nicht nötig, lassen Sie sich von den Eindrücken der Lerngruppe überraschen. Diese Art von Erstbegegnung überspringt die Barriere der Fremdheit, auf der Basis des Formulierens emotionaler Erfahrungen sind Lehrer und Schüler relativ gleich. Die formulierten „Psychogramme“/Höreindrücke kann man sofort verlesen lassen und eine tabellarische Zusammenfassung versuchen. Ich nehme sie auch gern nach Hause und erstelle daraus ein stichwortartiges „Verlaufsbild“ des Stückes. Per Folie aufgelegt, bildet es das Gerüst der Folgestunden.

2. Schritt: Abenteuer Partiturlesen

Jetzt geht es an den Notendschungel, schrittweise natürlich. Die Gruppe bekommt NONOS Partitur, man kann auch Probedurchläufe ohne Lehrerhilfe versuchen, sollte aber rechtzeitig Hörhilfen anbieten. Bewährt hat sich ein Mitverfolgen durch Partiturauszüge auf Folien – man blendet sie während der Musik ein, zeigt ein- bis zweimal den Verlauf (Führungsstimmen, Mitlesen der Reihen) und fordert danach Schüler auf zum Anzeigen des Verlaufes. Dies hat durchaus sportlichen Charakter, der Dschungel bekommt erste Pfade der Orientierung. Farbige Markierungen in der Partitur etc. sind ebenfalls hilfreich. Genial wäre die sukzessive Verknüpfung mit den Eindrücken aus dem ersten Schritt, für diesen komplexen Prozess biete ich in weiterführender Literatur Hinweise an (s.u.).

3. Analytische Verdichtung

Der dritte Schritt führt jetzt relativ organisch zur Analyse und Reflexion. Weiter sollte man das Hören trainieren, jetzt aber Aufträge zur theoretischen Durchdringung erteilen, je nach Lerngruppe deduktiv oder induktiv forschen/nachvollziehen lassen. Leistungskurse kommen sicher fast selbstständig zu den Reihenverläufen, der Sprachbehandlung etc.  – bei schwächeren Gruppen wird entsprechend geholfen. Den musikgeschichtlichen Bezug kann man leicht über SCHÖNBERG leisten, oder ggf. die Szene der 50er Jahre vertiefend einblenden (von H.SCHERCHEN zu BOULEZ, STOCKHAUSEN & Co.).

4. Rückführung

Jetzt soll das Ganze wieder in den Blick kommen. Warum setzte NONO die Briefe in dieser Form um? Was bedeutet in diesem Kontext seine Allintervall-Technik? Was mutet er dem Hörer zu, was erwartet er vom Publikum? Zur Diskussion sollte man Texte aus den 50ern genauso wie Auszüge aus Konzertführern nutzen, und den Bezug zu anderen Projektfächern (Geschichte, Philosophie etc.) ebenfalls suchen.

Niko Lamprecht 2007